Vor ihm lag eine kopfsteingepflasterte Flache, seitlich umstanden von Baracken. Dahinter schienen die Aufbauten eines riesigen Schiffes geradewegs aus dem Boden zu wachsen. Es war die Barrier Queen. Sie lag in einem Becken von gut und gerne 250 Metern Lange. Zu beiden Seiten erhoben sich Krane auf Schienen. Starke Scheinwerfer bestrahlten das Gelande. Weit und breit war niemand zu sehen.
Wahrend er mit wachsamen Blicken uber den erleuchteten Platz ging, fragte er sich, ob die Aktion nicht allzu uberhastet war. Das Schiff lag seit Wochen auf dem Trockenen. Den Bewuchs hatte man vermutlich entfernt, mit allem, was darin versteckt gewesen war. Etwaige Reste in Ritzen und Spalten wurden langst vertrocknet sein. Von dem Ding in den Muscheln ware erst recht nichts ubrig. Im Grunde wusste Anawak nicht so recht, was eine zweite Untersuchung der Barrier Queen zutage fordern sollte. Es war ein Versuch auf gut Gluck, eine vage Hoffnung. Falls er irgendetwas fand, das fur Nanaimo von Nutzen sein konnte, wurde er es mitnehmen. Falls nicht, hatte er dem Abenteuer einen Abend geopfert.
Das Ding vom Rumpf.
Es war klein gewesen, hochstens so gro? wie ein Rochen oder ein Tintenfisch. Der Organismus hatte einen Lichtblitz ausgesandt. Viele Meeresbewohner taten das, Kopffu?er, Medusen, Tiefseefische. Dennoch war Anawak uberzeugt, diesem Blitzen wiederbegegnet zu sein, als er mit Ford die Aufnahmen des URA betrachtet hatte. Die leuchtende Wolke war ungleich gro?er als das Ding, aber was sich in ihrem Innern abspielte, erinnerte ihn auf frappierende Weise an sein Erlebnis unter dem Rumpf der Barrier Queen. Falls es sich wirklich um ein und dieselbe Lebensform handelte, wurde es allerdings erst richtig spannend. Denn das Zeug in den Kopfen der Wale, die Substanz vom Rumpf des Schiffes und das geflohene Wesen schienen identisch zu sein.
Die Wale sind nur der Teil des Problems, den wir sehen.
Er schaute sich mit erhohter Wachsamkeit um und sah ein Stuck abseits mehrere Gelandewagen vor einer Baracke parken. Die Fenster des Gebaudes waren erleuchtet. Er blieb stehen. Es waren Militarfahrzeuge. Was tat das Militar hier? Plotzlich wurde ihm bewusst, dass er mitten auf dem hell erleuchteten Platz stand, und er lief geduckt weiter. Erst am Rand des Trockendocks verharrte er. So sehr beschaftigte ihn das Vorhandensein der Militarfahrzeuge, dass er einige Sekunden lang in das Becken starrte, ohne recht zu begreifen, was er sah. Dann weiteten sich seine Augen vor Erstaunen. Er verga? die Fahrzeuge und trat naher heran.
Das Dock war geflutet.
Die Barrier Queen lag keineswegs auf dem Trockenen. Wo man den Kiel auf den Pallen hatte sehen mussen, rippten sich winzige Wellen. Der Wasserspiegel lag mindestens acht bis zehn Meter uber der Docksohle.
Anawak ging in die Hocke und starrte auf das schwarze Wasser.
Warum hatten sie es eingelassen? War die Reparatur des Ruders vollendet? Aber dann hatten sie die Barrier Queen ebenso gut raussetzen konnen.
Er dachte nach.
Und plotzlich wusste er, warum.
Vor Erregung lie? er die Schultertasche so schnell heruntergleiten, dass sie gerauschvoll aufschlug. Erschrocken blickte er den verlassenen Pier entlang. Der Himmel verdusterte sich zusehends. Flutlichter erstrahlten entlang des Docks in kaltem Wei?grun. Er lauschte auf Schritte, aber au?er den Gerauschen der Stadt, die der Wind heruberwehte, war nichts zu horen.
Jetzt, da er das geflutete Becken sah, kamen ihm plotzlich Zweifel, ob er nicht einen Fehler beging. Seine Verargerung uber die Geheimnistuerei des Krisenstabs hatte ihn hergefuhrt, aber wer war er, dessen Entscheidungen in Frage zu stellen? Es war eine Rambo-Aktion, die er hier durchzog, moglicherweise eine Nummer zu gro? fur ihn. Daruber hatte er zuvor nicht nachgedacht.
Andererseits war er nun mal hier, und uberhaupt — was sollte passieren? In zwanzig Minuten wurde er ebenso unbemerkt verschwunden sein, wie er hergelangt war. Um einiges kluger.
Anawak offnete die Sporttasche. Sie hielt alles bereit. Er hatte die Moglichkeit nicht ausgeschlossen, tauchen zu mussen. Hatte die Barrier Queen im Schwimmdock gelegen, ware es sinnvoll gewesen, sich vom offenen Wasser her zu nahern. Aber so war es naturlich einfacher.
So war es perfekt!
Er entledigte sich seiner Jeans und der Oberbekleidung, holte Maske, Flossen und Stablampe hervor und einen Sammelbehalter, den er um seine Huften schnallte. Die Messertasche am Bein komplettierte die Ausrustung. Sauerstoff wurde er nicht brauchen. Die Tasche verstaute er unter einem Poller. Die Ausrustung unter den Arm geklemmt, eilte er am Becken entlang, bis er zu einer schmalen, abwarts fuhrenden Steigleiter gelangte. Er warf einen letzten Blick uber den Pier. Aus der Baracke drang unverandert Licht. Niemand war zu sehen. Schnell und gerauschlos lief er die Gitterstufen abwarts, streifte Maske und Flossen uber und lie? sich ins Wasser gleiten.
Schneidende Kalte fuhr ihm in die Knochen. Ohne Neoprenschutz musste er sich beeilen, aber er hatte ohnehin nicht vor, lange unten zu bleiben. Mit kraftigen Flossenschlagen, die Stablampe eingeschaltet, tauchte er ab und strebte dem Kiel zu. Das Wasser war um einiges klarer als bei seinem Tauchgang im Hafenbecken, und er sah den stahlernen Rumpf deutlich vor sich. Das Licht der Lampe lie? den Anstrich kraftig rot aufleuchten. Er strich mit den Fingern uber die Oberflache, verharrte einen Moment, stie? sich ab und schwamm weiter.
Nach wenigen Metern verschwand die Bordwand unter dichtem Muschelbewuchs.
Fasziniert paddelte er weiter. Der Kiel war unverandert dick verkrustet. Nachdem er rund die Halfte der Distanz zum Bug zuruckgelegt hatte, schien es ihm fast, als habe der Bewuchs sogar noch zugenommen. Das war es also. Sie hatten ihn uberhaupt nicht entfernt. Sie erforschten das Zeug und alles, was noch darin stecken mochte, direkt am Schiff. Darum lag die Barrier Queen im Trockendock, weil man es im Gegensatz zu einem Schwimmdock hermetisch abriegeln konnte, sodass nichts ins Meer entwich, was nicht entweichen sollte. Sie hatten die Barrier Queen zu einem Laboratorium umfunktioniert. Und damit, was daran haftete und darin lebte, weiterleben konnte, hatten sie das Dock geflutet.
Schlagartig wurde ihm nun auch klar, was die Militarfahrzeuge zu bedeuten hatten. Wenn Nanaimo als ziviles Institut aus der Sache raus war, konnte das nur eines bedeuten. Die Armee hatte die Forschungen an sich gerissen. Alles Weitere lief unter Ausschluss der Offentlichkeit.
Anawak zogerte. Wieder meldeten sich Zweifel, ob er das Richtige tat. Noch war Zeit, sich davonzumachen. Dann verwarf er den Gedanken. Lange wurde er nicht brauchen. Rasch zog er das Messer heraus und begann, Muscheln abzusabeln. Er achtete darauf, die Schalen nicht zu beschadigen, loste die Tiere, indem er die Klinge behutsam unter den muskulosen Fu? schob und mit einem Ruck abhebelte, konzentriert und systematisch. Eine Muschel nach der anderen wanderte in die Sammelbox. Gut so. Oliviera wurde ihm um den Hals fallen.
Der Drang einzuatmen wurde ubermachtig. Anawak steckte das Messer weg und tauchte auf, um Luft zu holen. Kuhl drang sie in seine Lungen. Uber ihm ragte dunkel und steil die Bordwand empor. Er atmete mehrmals kraftig durch. Als Nachstes wurde er eine Stelle suchen, die jener glich, aus der ihm das aufblitzende Ding entgegengekommen war. Vielleicht verbargen sich ja noch weitere dieser Wesen im Bewuchs. Diesmal wurde er vorbereitet sein.
Als er eben wieder abtauchen wollte, vernahm er leise Schritte.
Er drehte sich im Wasser und spahte die Wand des Beckens hoch. Zwei Gestalten gingen dort entlang, auf halber Strecke zwischen zwei Flutlichtmasten.
Sie schauten nach unten.
Lautlos lie? er sich unter die Oberflache sinken. Vermutlich der Wachdienst. Oder zwei spate Arbeiter. Sicher gab es eine Menge Leute, die Grund hatten, um diese Zeit hier entlangzugehen. Er wurde darauf zu achten haben, wenn er das Becken wieder verlie?.