»Ach ja. Die Navy. Deine Delphine.«

Greywolf nickte grimmig.

»Die Navy war gut. Ich war der beste Trainer, den sie jemals hatten, und da hat keiner blode Fragen gestellt. Aber kaum war ich drau?en, ging es wieder los. Meine Mutter trieb meinen Vater mit indianischen Brauchen zum Wahnsinn und er sie mit seinem standigen Heimweh nach Mayo. Jeder versuchte sich irgendwie zu behaupten. Ich glaube, sie wollten nicht mal stolz darauf sein, irgendwoher zu kommen, sie wollten uberhaupt nur irgendwoher kommen und sagen fuck!, ich bin kein Bastard! Das hier ist meine Heimat, hey, hier bin ich zu Hause!«

»Das waren ihre Probleme. Du hattest sie nicht zu deinen machen mussen.«

»Ach ja?«

»Mann, Jack! Du stehst vor mir wie ein Schrank und behauptest, von den Konflikten deiner Eltern derma?en traumatisiert zu sein, dass du nichts auf die Reihe kriegst?« Anawak schnaubte zornig. »Was macht es fur einen Unterschied, ob du Indianer, Halbindianer oder sonst was bist? Niemand ist fur seine innere Heimat verantwortlich au?er er selber, seine Eltern nicht, keiner.«

Greywolf schwieg uberrascht. Dann stahl sich Genugtuung in seine Augen, und Anawak wusste, dass er soeben verloren hatte. Es hatte so kommen mussen.

»Von wem reden wir hier eigentlich?«, fragte Greywolf mit maliziosem Lacheln.

Anawak schwieg. Er sah zur Seite.

Greywolf richtete sich langsam auf. Das Lacheln verschwand von seinen Zugen. Plotzlich sah er verbraucht und mude aus. Er ging hinuber zu der Maske und blieb davor stehen.

»Okay, vielleicht bin ich ein Idiot«, sagte er leise.

»Mach dir nichts draus.« Anawak fuhr sich uber die Augen. »Wir sind beide Idioten.«

»Du bist der gro?ere von uns beiden. Diese Maske hier stammt aus dem HuupaKanum von Chief Jones. Du hast keine Ahnung, was das ist, stimmt’s? Ich sag’s dir. Ein HuupuKanum ist eine Box. Ein Aufbewahrungsort fur Masken und Kopfschmuck, Zeremoniengegenstande und so weiter. Aber das ist nicht alles. Im HuupuKanum liegen die vererbten Rechte der hawiih und chaachaabat, der Chiefs. Das Huupu-Kanum dokumentiert ihr Territorium, ihre historische Identitat, ihre vererbten Rechte. Es sagt den anderen, wer du bist und woher du kommst.« Er drehte sich um. »Jemand wie ich konnte nie in den Besitz eines HuupuKanum gelangen. Du schon. Du konntest stolz sein. Aber du verleugnest alles, was du bist und woher du stammst. Ich soll Verantwortung tragen fur das Volk, dem ich mich zugehorig fuhle. Du bist einem Volk zugehorig und hast es verlassen! Du wirfst mir vor, nicht authentisch zu sein. Ich konnte es nie sein, aber ich versuche mir ein Stuck Authentizitat zu erkampfen. Du hingegen bist authentisch. Aber du willst nicht sein, was du bist, und bist nicht, was du sein willst. Du sagst mir, ich sehe aus wie aus einem schlechten Western, aber es ist wenigstens ein Bekenntnis zu irgendeiner Art von Leben. Du zuckst ja schon zusammen, wenn dich blo? jemand fragt, ob du ein Makah bist.«

»Woher wei?t du …?« Delaware. Naturlich. Sie war hier gewesen.

»Mach ihr blo? keinen Vorwurf«, sagte Greywolf. »Dich zu fragen, hat sie sich kein zweites Mal getraut.«

»Was hast du ihr erzahlt?«

»Nichts. Du verdammter Feigling. Du willst mir was von Verantwortung erzahlen? Du kommst hierher und wagst es, mir diese Schei?e aufzutischen, dass nicht die Eltern fur deine innere Heimat zustandig sind, sondern nur du selber? Ausgerechnet du? Leon, ich fuhre vielleicht ein lacherliches Leben, aber du … du bist doch schon tot.«

Anawak sa? da und lie? die letzten Worte Revue passieren. »Ja«, sagte er langsam. »Du hast Recht.«

»Ich habe Recht?«

Anawak erhob sich. »Ja. Ich danke dir nochmals fur die Lebensrettung. Du hast Recht.«

»Hey, warte mal.« Greywolf zwinkerte nervos. »Was … was hast du denn jetzt vor?«

»Ich gehe.«

»So? Hm. Na ja, Leon, ich … also, dass du schon tot bist, habe ich nicht so … verdammt, ich wollte dich nicht verletzen, ich … Zum Teufel, steh hier nicht rum, setz dich wieder hin!«

»Wozu?«

»Deine … deine Cola! Du hast sie nicht ausgetrunken.«

Anawak zuckte ergeben die Achseln. Er setzte sich wieder, nahm die Dose und trank. Greywolf sah ihm zu, kam zu ihm heruber und lie? sich wieder auf dem Sofa nieder.

»Was war eigentlich mit diesem kleinen Jungen?«, fragte Anawak. »Scheint dich ja schwer ins Herz geschlossen zu haben.«

»Den wir vom Schiff geholt haben?«

»Ja.«

»Was schon? Er hatte Angst. Ich hab mich um ihn gekummert.«

»Einfach so?«

»Klar.«

Anawak lachelte. »Ich hatte eher den Eindruck, du willst um jeden Preis in die Zeitung.«

Einen Moment lang wirkte Greywolf verargert. Dann grinste er zuruck. »Klar wollte ich in die Zeitung. Ich fand’s geil, in der Zeitung zu stehen. Das eine schlie?t das andere ja nicht aus.«

»Der Held von Tofino.«

»Na und? Es war klasse, der Held von Tofino zu sein! Wildfremde Leute haben mir auf die Schulter gehauen. Nicht jeder macht durch bahnbrechende Tests mit Meeressaugern von sich reden. Man nimmt, was man kriegt.«

Anawak nuckelte den letzten Rest aus seiner Dose. »Und wie geht’s deiner … ahm, Organisation?«

»Den Seaguards?«

»Ja.«

»Aus die Maus. Nachdem die eine Halfte bei dem Walangriff ums Leben gekommen ist, hat sich die andere in alle Winde zerstreut.« Greywolf zog die Stirn in Falten. Er sah aus, als horche er in sich hinein. Dann ruhte sein Blick wieder auf Anawak. »Wei?t du, Leon, was das Problem unserer Zeit ist? Die Menschen verlieren ihre Bedeutung. Jeder ist ersetzbar. Es gibt keine Ideale mehr, und ohne Ideale gibt es nichts, was uns gro?er macht, als wir sind. Jeder sucht verzweifelt nach dem Beweis, dass die Welt mit ihm ein bisschen anders ist als ohne ihn. — Ich habe was fur diesen Jungen getan. Vielleicht war es sinnvoll. Vielleicht gibt es mir ein bisschen Bedeutung.«

Anawak nickte langsam. »Ja. Das tut es bestimmt.«

Hafengelande, Vancouver

Wenige Stunden nach seinem Besuch bei Greywolf blickte Anawak im verschwindenden Tageslicht den Pier entlang.

Menschenleer.

Wie alle Welthafen war auch Vancouver Harbour ein autarker Kosmos von gewaltigen Ausma?en, in dem es an nichts zu fehlen schien — bis auf Ubersichtlichkeit.

Hinter ihm lagen die aufgeturmten, eckigen Kistengebirge des Containerhafens, in unwirkliche Farben getaucht. Loschkrane zeichneten sich schwarz gegen das Silberblau des Abendhimmels ab. Die Silhouetten von Autofrachtern erhoben sich wie riesige Schuhkartons, dazwischen Containerschiffe, Massengutfrachter und elegante wei?e Kuhlschiffe. Zu Anawaks Rechten reihten sich Lagerhallen aneinander. Ein Stuck weiter sah er Schlauche, Bleche und Hydraulikteile ubereinander liegen. Hier begannen auf weiter Flache die Trockendocks, und noch weiter drau?en lagen die Schwimmdocks. Eine Brise trieb den Geruch von Farbe heruber.

Offenbar kam er der Sache naher.

Ohne Auto war man hier verloren. Anawak hatte ein paar Leute fragen mussen und eine ganze Weile falsch gefragt, weil er das Objekt seiner Suche schlecht nennen konnte. Sie hatten ihm beschrieben, wo die Schwimmdocks lagen, weil er davon ausging, es dort zu finden. Im Hafen von Vancouver standen Docks aller Gro?en zur Verfugung, bis hin zum zweitgro?ten Schwimmdock der Welt, das uber 50000 Tonnen hob. Aber zu seiner Uberraschung, als er gezwungenerma?en konkreter wurde, schickte man ihn zu den Trockendocks, jenen kunstlichen Hafenbecken, die durch Schleusen abgedichtet wurden, bevor man das Wasser nach drau?en pumpte. Nach zweimaligem Verfahren sah er sich endlich am Ziel. Er parkte den Wagen im Schatten eines lang gestreckten Kontorgebaudes, wuchtete die prall gefullte Sporttasche uber die Schulter und wanderte entlang der Gitterabsperrung, bis er ein spaltbreit offenes Rolltor fand. Dort schlupfte er ins Innere.