Bolitho beschattete seine Augen und schaute zum Land. Wieder eine neue Herausforderung. Aber im Augenblick war ihm eher nach Flucht zumute.

II Ein Wiedersehen

John Allday lugte unter der Krempe seines Hutes hervor und sah die einlaufende Stromung das Wachboot aus dem Kurs drangen. Er legte die Pinne, und Bolithos frisch gestrichene grune Barkasse folgte dem anderen Boot ohne eine Unterbrechung im Takt der Ruderer. Alldays Ruf als des Admirals personlicher Bootssteurer war legendar.

Er sah uber die Bootscrew hinweg, die Gesichter sagten ihm nichts. Das Boot selbst war von ihrem letztem Schiff, der Argonaute, einer franzosischen Prise, ubernommen worden; Bolitho hatte es seinem Bootssteurer uberlassen, eine neue Mannschaft auf der Hyperion zu rekrutieren. Allday musterte die Manner im Heck. Das waren Yovell, den man vom Schreibergehilfen zum Sekretar befordert hatte, und der neue Flaggleutnant. Der junge Offizier schien recht annehmbar, kam aber nicht aus einer seefahrenden Familie. Die meisten sahen diese besonders anstrengende Stellung als einen sicheren Weg zur Beforderung an. Fur ein Urteil uber Jenour war es noch zu fruh, beschlo? Allday. Auf einem Schiff, in dem sich sogar die Ratten fremd waren, tat man gut daran, keine vorschnellen Meinungen zu au?ern.

Seine Augen blieben auf Bolithos breiten Schultern haften, und er versuchte die Besorgnis zu unterdrucken, die ihn seit ihrer Ruckkehr nach Falmouth begleitete. Trotz der Schmerzen und des Blutzolls der Schlacht hatte es eine stolze Heimkehr sein sollen. Sogar die Verletzung von Bolithos linkem Auge schien weniger schlimm im Vergleich zu dem, was sie zusammen durchgemacht hatten. Das war vor ungefahr einem Jahr passiert, an Bord des kleinen Kutters Supreme. Allday entsann sich jedes einzelnen Tages, der qualvollen Gesundung, der moralischen Starke des Mannes, dem er diente und den er verehrte. Bolitho hatte ihn immer wieder in Erstaunen versetzt, obwohl sie nun uber zwanzig Jahre zusammen waren.

Sie kamen vom Hafen in Falmouth und hielten an der Kirche, die zu einem Teil von Bolithos Familiengeschichte geworden war. Generationen waren mit ihr verbunden, durch Hochzeiten und Geburten, durch Dank fur die Siege auf See, aber auch durch gewaltsamen Tod. Allday war an jenem Sommertag am gro?en Portal der stillen Kirche stehengeblieben und hatte mit Erstaunen und Trauer gehort, wie Bolitho ihren Namen aussprach:

Cheney…

Nur ihren Namen, nichts weiter; und doch hatte ihm das vieles erklart. Allday hatte bis dahin geglaubt, es wurde alles wieder gut, sobald sie erst das graue Haus erreicht hatten. Die schone Lady Belinda, die zumindest im Aussehen so sehr seiner ersten Frau Cheney glich, wurde es schon schaffen, Bolitho zu trosten, wenn sie erst das Ausma? seines Schmerzes begriff. Vielleicht wurde sie seine Qual heilen, die er nie erwahnte, die aber Allday nicht entging. Angenommen, das andere Auge wurde in einer Schlacht ebenfalls verletzt? Die Angst so vieler Seeleute und Soldaten, als Kruppel unerwunscht zu sein, qualte auch Bolitho.

Alle hatten sie gewartet, um ihn zu begru?en: Ferguson, der Verwalter, der einen Arm bei den Saintes verloren hatte, was schon eine Million Jahre zuruckzuliegen schien; seine rotbackige Frau Grace, die Haushalterin, und das andere Personal. Es gab Lachen, Hochrufe und eine Menge Tranen obendrein. Doch

Belinda und die kleine Elizabeth waren nicht dagewesen. Ferguson sagte, sie hatte in einem Brief ihre Abwesenheit erklarte. Oft genug fand ein heimkehrender Seemann seine Familie in Unkenntnis uber sein Kommen, aber hier hatte es in keinem schlimmeren Augenblick geschehen oder Bolitho harter treffen konnen.

Nicht einmal sein junger Neffe Adam, der nun die Brigg Firefly befehligte, war dagewesen, um ihn aufzumuntern. Er war an Bord zuruckgerufen worden, um Ausrustung und Trinkwasser zu ubernehmen.

Aber Hyperion war nun die Gegenwart. Allday achtete auf den Schlagmann, dessen Riemen schlecht eintauchte und Spritzwasser ubers Dollbord warf. Verdammte Stumper! Sie wurden das eine oder andere noch zu lernen haben, und wenn er sich jeden einzelnen personlich vornehmen mu?te.

Die alte Hyperion war fur sie keine Fremde, nur ihre Leute waren das. Entsprach das Bolithos Wunschen? Allday wu?te es nicht. Wenn Keen hier Flaggkapitan gewesen ware oder auch der arme Inch, hatten die Dinge besser ausgesehen. Aber Kapitan Haven war ein kalter Fisch. Dessen Bootssteurer, ein Waliser namens Evans, hatte ihm bei einem Glas Rum anvertraut, sein Herr hatte keinen Humor und lie?e niemanden an sich heran.

Allday grubelte weiter uber Bolitho nach. Wie er sich doch verandert hatte! Ein Schiff folgte dem anderen, sie befuhren verschiedene Meere, aber gewohnlich blieb der Feind sich gleich. Und Bolitho hatte ihn immer wie einen Freund behandelt, wie einen, der zur Familie gehorte. Das hatte er einmal beilaufig gesagt, aber Allday hatte es wie etwas Kostbares im Gedachtnis bewahrt.

Es war schon seltsam, wenn man daruber nachdachte. Einige seiner alten Messegefahrten hatten ihn vielleicht sogar damit geneckt, hatte der Respekt vor seinen Fausten sie nicht zuruckgehalten. Aber Allday wie auch Ferguson waren einmal in den Dienst des Konigs gepre?t und auf Bolithos Schiff, die Fregatte Phalarope, gesteckt worden — kaum die rechte Basis fur eine Freundschaft. Trotzdem war Allday seit dem Gefecht bei den Saintes freiwillig bei Bolitho geblieben, als dessen alter Bootssteurer Stockdale getotet wurde. Er war sein ganzes Leben Seemann gewesen, nur kurze Zeit hatte er an Land ausgerechnet als Schafer gearbeitet. Er wu?te wenig uber seine Abstammung und die Leute, die ihn gro?gezogen hatten, was ihn mit zunehmendem Alter zuweilen beunruhigte.

Er studierte Bolithos altmodischen Nackenzopf, der unter seinem goldbetre?ten Hut hervorsah. Noch war er rabenschwarz. Seine Erscheinung blieb jugendlich, so da? er manchmal irrtumlich fur Adams alteren Bruder gehalten wurde. Sofern Allday es uberhaupt wu?te, hatte er das gleiche Alter: siebenundvierzig. Doch wahrend er voller wurde und sein dickes braunes Haar graue Streifen bekam, schien Bolitho nicht zu altern. Allday kannte ihn von allen Seiten: als einen Tiger im Gefecht, aber auch als einen Mann, den es fast zu Tranen ruhrte, wenn er Schiffe und Menschen in einer Seeschlacht sterben sah.

Das Wachboot schwenkte unter dem ausladenden Kluverbaum eines hubschen Schoners durch. Allday beugte sich uber die Pinne und hielt den Atem an, als er seine alte Wunde in der Brust brennen fuhlte. Nur selten konnte er sie vergessen: die spanische Klinge, die wie aus dem Nichts gekommen war, und Bolitho, der ihn deckte, ihm das Leben rettete.

Die Wunde machte ihm Muhe, und es fiel ihm oft schwer, seine Schultern zu straffen, ohne da? Schmerz ihn durchscho?. Bolitho hatte ihm nahegelegt, an Land zu bleiben, wenigstens vorubergehend. Langst bot er ihm nicht mehr die Chance einer Freistellung von der Navy an, der er so gut gedient hatte. Denn er wu?te, das hatte Allday fast mehr geschmerzt als die Wunde selbst.

Die Barkasse strebte der nachsten Anlegepier zu. Bolithos Finger umklammerten die Scheide seines alten Degens, den er zwischen den Knien hielt. So viele Gefechte hatten sie gemeinsam bestanden, so oft hatten sie sich gefragt, weshalb sie wieder einmal verschont geblieben waren, obwohl so viele andere fielen.

«Klar bei Bootshaken!«Allday beobachtete kritisch, wie der Bugmann den Riemen einzog, aufstand und mit dem bereitgehaltenen Haken nach der Pierkette tastete. In ihren geteerten Huten und karierten Hemden sahen die Leute forsch und schmuck aus, aber es brauchte mehr als Farbe, damit ein Schiff segeln konnte. Auch Allday selbst war eine stattliche Erscheinung, obwohl er sich dessen kaum bewu?t war, wenn er nicht gerade das Auge des einen oder anderen Madchens auf sich zog, was ofter geschah, als er zugab. In seinem blauen Rock mit den goldenen Knopfen, den ihm Bolitho spendiert hatte, und in seinen Nankingbreeches war er jeder Zoll ein alter Salzwasserbuckel.