Hier in diesem Buro, mit der Aussicht, Dumbledore gleich von dem Traum erzahlen zu konnen, fuhlte Harry sich schon viel ruhiger. Er lie? den Blick uber die Wand hinter dem Schreibtisch wandern. Der Sprechende Hut, zerschlissen und geflickt, lag auf einem Wandbord. Neben ihm stand eine Glasvitrine mit einem prachtvollen silbernen Schwert, in dessen Griff gro?e Rubine eingelassen waren, und Harry erkannte, da? es das Schwert war, das er selbst im zweiten Jahr aus dem Sprechenden Hut gezogen hatte. Einst hatte es Godric Gryffindor gehort, dem Begrunder des Hauses, zu dem Harry gehorte. Er lie? den Blick darauf ruhen und erinnerte sich gerade lebhaft, wie es ihm damals, als er schon alle Hoffnung aufgegeben hatte, zu Hilfe gekommen war, da bemerkte er einen silbrig schimmernden Lichtfleck, der auf dem Glas der Vitrine tanzte. Er wandte den Kopf und sah, da? aus einem schwarzen Schrank, dessen Tur nicht ganz geschlossen war, ein schmaler Streifen Licht herausfiel. Harry zogerte, warf Fawkes einen Blick zu, stand auf, ging hinuber und zog die Schranktur auf.

Im Schrank stand eine flache steinerne Schale mit merkwurdigen Gravuren entlang des Rands; Runen und Symbole, die Harry nicht entziffern konnte. Das silbrige Licht kam aus dem Inneren der Schale und stammte von etwas, das Harry noch nie gesehen hatte. Er konnte nicht erkennen, ob die Substanz eine Flussigkeit oder ein Gas war. Sie war hell, silbrig wei?, und bewegte sich unablassig; ihre Oberflache krauselte sich wie Wasser, uber das ein Wind streicht, dann wiederum teilte sie sich auf in sanft wirbelnde Wolken. Es war wie flussiges Licht oder wie Wind, der greifbare Gestalt angenommen hatte – Harry war ratlos.

Er wollte die Substanz beruhren, herausfinden, wie sie sich anfuhlte, doch nach fast vier Jahren Erfahrung mit der magischen Welt wu?te er, da? es sehr dumm ware, einfach die Hand in eine Schale mit einer unbekannten Substanz zu tauchen. Daher zog er den Zauberstab aus dem Umhang, lie? den Blick nervos durch das Buro huschen, wandte sich erneut der Schale zu und ruhrte ihren Inhalt ganz kurz mit der Spitze des Zauberstabs um. An der Oberflache der silbrigen Substanz begann es sehr schnell zu wirbeln.

Harry beugte sich tiefer uber die Schale und steckte mit dem Kopf bereits mitten im Schrank. Die silbrige Substanz war durchsichtig geworden; sie wirkte wie Glas. Er sah von oben in sie hinein und erwartete den steinernen Boden der Schale zu sehen – doch stattdessen erblickte er unter der Oberflache der geheimnisvollen Substanz einen riesigen Raum, in den er wie durch ein rundes Fenster in der Decke hinuntersehen konnte.

Der Raum war schwach erleuchtet; vielleicht war er sogar unterirdisch, denn es gab keine Fenster, nur Fackeln an den Mauern, wie er sie schon von Hogwarts kannte. Er buckte sich noch tiefer, so da? seine Nase nur noch wenige Zentimeter von der glasigen Substanz entfernt war, und nun sah er, da? an den Wanden entlang Sitzbanke errichtet waren, die sich stufenweise nach oben zogen und bis auf den letzten Platz besetzt waren mit Hexen und Zauberern. Genau in der Mitte des Raumes stand ein leerer Stuhl. Etwas an diesem Stuhl erweckte eine dunkle Vorahnung in ihm. An den Armlehnen hingen Ketten, als ob man die dort Sitzenden an den Stuhl zu fesseln pflegte. Wo befand sich dieser Ort? Sicher nicht in Hogwarts; einen solchen Raum hatte er im Schlo? noch nicht gesehen. Zudem gab es in diesem geheimnisvollen Saal nur Erwachsene, und Harry wu?te, da? es nicht annahernd so viele Lehrer in Hogwarts gab. Sie scheinen auf etwas zu warten, uberlegte er; zwar konnte er von oben nur auf ihre Spitzhute sehen, doch sie alle blickten offenbar in eine Richtung und sprachen nicht miteinander.

Da die Schale rund war und der Raum, den Harry beobachtete, quadratisch, konnte er nicht erkennen, was in den Ecken passierte. Doch er wollte noch mehr sehen und neigte den Kopf noch tiefer…

Seine Nasenspitze beruhrte die seltsame Substanz, in die er geblickt hatte. Dumbledores Buro tat einen ubermachtigen Ruck – Harry warf es nach vorn und er sturzte kopfuber in die Substanz der Schale -

Doch sein Kopf schlug nicht auf dem steinernen Boden auf. Er fiel durch etwas Eiskaltes und Schwarzes; es war, als wurde er in einen dunklen Malstrom gesogen -

Und plotzlich sa? er auf einer Bank an der Mauer des Raumes in der Schale, einer Bank hoch uber den anderen. Er blickte zur steinernen Decke auf und erwartete, dort das runde Fenster zu sehen, durch das er eben gespaht hatte, doch da war nichts als dunkler, fester Stein.

Schwer und schnell atmend blickte sich Harry um. Keine einzige Hexe, kein Zauberer in diesem Raum achtete auf ihn (und es waren mindestens zweihundert von ihnen da). Niemand schien bemerkt zu haben, da? ein vierzehnjahriger Junge soeben von der Decke herunter in ihre Mitte gefallen war. Harry wandte sich dem Zauberer zu, der neben ihm auf der Bank sa?, und stie? vor Uberraschung einen lauten Schrei aus, der in dem stillen Raum widerhallte.

Ihm zur Seite sa? Albus Dumbledore.

»Professor!«, sagte Harry mit einer Art ersticktem Flustern.»Verzeihung – das war keine Absicht – ich wollte mir nur diese Schale in Ihrem Schrank ansehen – ich – wo sind wir?«

Doch Dumbledore ruhrte sich nicht und sagte kein Wort. Er achtete uberhaupt nicht auf Harry. Wie alle anderen Zauberer auf den Banken schaute er in die gegenuberliegende Ecke des Raumes, wo eine Tur war.

Harry starrte Dumbledore verdutzt an, lie? den Blick uber die schweigend und gespannt wartende Menge schweifen und wandte sich erneut Dumbledore zu. Und dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen…

Schon einmal hatte Harry sich an einem Ort befunden, an dem ihn niemand sehen oder horen konnte. Damals war er durch die Blatter eines verzauberten Taschenkalenders gefallen, mitten hinein in das Gedachtnis eines Anderen… und wenn er sich nicht sehr irrte, war etwas Ahnliches auch jetzt geschehen…

Harry hob die rechte Hand, zogerte kurz und wedelte dann energisch vor Dumbledores Gesicht hin und her.

Dumbledore ruhrte sich nicht, zuckte nicht einmal mit der Wimper. Damit war fur Harry die Sache klar. Er war im Innern eines Gedachtnisses, und dies war nicht der Dumbledore der Gegenwart. Doch allzu lange konnte es nicht her sein… der Dumbledore, der jetzt neben ihm sa?, hatte silbernes Haar, genau wie der heutige Dumbledore. Doch was war dies fur ein Ort? Worauf warteten all diese Zauberer?

Harry sah sich jetzt etwas aufmerksamer um. Es war, wie er von oben aus schon vermutet hatte, fast sicher ein unterirdischer Raum – eine Art Kerker, befand er. Der Ort hatte etwas Dusteres, ja Bedrohliches an sich; an den Wanden hingen keine Bilder, es gab uberhaupt keinen Schmuck; nur diese dicht geschlossenen Bankreihen, die sich an den Wanden des Raums emporzogen, so da? alle Zuschauer ungehinderten Blick auf den Stuhl mit den Ketten an den Armlehnen hatten.

Harry uberlegte noch, wozu dieser Raum dienen sollte, als er Schritte horte. Die Tur in der Ecke des Kerkers offnete sich und drei Gestalten traten ein – genau gesagt ein Mann, flankiert von zwei Dementoren.

Harrys Eingeweide gefroren. Die Dementoren, gro?e Gestalten mit Kapuzen, die ihre Gesichter verhullten, glitten langsam auf den Stuhl in der Mitte zu. Sie hatten mit ihren verwesenden und modrigen Handen die Arme des Mannes gepackt. Der Mann in ihrer Mitte machte den Eindruck, als wurde er gleich ohnmachtig werden, und Harry konnte es durchaus nachfuhlen… er wu?te, da? ihm die Dementoren im Innern eines Gedachtnisses nichts anhaben konnten, doch er erinnerte sich nur zu gut an ihre Krafte. Ein leises Schaudern lief durch die Zuschauerreihen, wahrend die Dementoren den Mann zu dem Kettenstuhl fuhrten und dann hinausglitten. Die Tur schwang hinter ihnen zu.

Harry sah hinunter auf den Mann, der jetzt auf dem Stuhl sa?, und erkannte Karkaroff.

Im Gegensatz zu Dumbledore sah Karkaroff hier viel junger aus; Haare und Ziegenbart waren schwarz. Er hatte keinen glattseidenen Pelz an, sondern einen dunnen und schabigen Umhang. Er zitterte am ganzen Leib. Noch wahrend ihn Harry beobachtete, ergluhten die Ketten an den Armlehnen plotzlich golden, schlangen sich an seinen Armen hoch und zurrten sie fest.