Meist jedoch horte man von Schiffen, die derartige Begegnungen hatten, nie wieder etwas. Denn das eigentlich Tuckische an den Riesenwellen war das sogenannte ›Loch im Ozean‹ — die Wellenfront schob einen tiefen Trog, einen Abgrund vor sich her, in den das Schiff hineinsackte, Bug oder Heck voran. Lagen die Wellen weit genug auseinander, blieb im Allgemeinen ausreichend Zeit, um wieder hochzukommen und den nachfolgenden Wellenberg zu erklimmen. Bei kurzen Wellenlangen verhielt es sich anders. Das Schiff sturzte in den Trog, aber die Welle folgte zu dicht auf, und so fuhr es in die Wasserwand hinein, die es verschluckte und unter sich begrub. Aber selbst wenn ein Schiff es mit knapper Not aus dem Trog schaffte und sich wieder an den Aufstieg machte, konnte man nur bangen, dass die Welle nicht zu hoch oder zu steil war. Im Zweifel war sie jedoch beides, extrem steil und extrem hoch. Man versuchte das Unmogliche, namlich eine senkrechte Flache zu ersteigen. Dem fielen vor allem kleinere Schiffe zum Opfer, wenn die Welle hoher als das Schiff lang war, aber auch Ozeanriesen schafften es oft nicht aus dem Tal und uber den Kamm hinweg. Sie wurden von der Welle umgekippt und kenterten kopfuber.

Solche Riesenwellen, die ihren Ursprung dem Zusammenspiel von Wind und Stromung verdankten, brachten es auf Geschwindigkeiten von funfzig Stundenkilometern, selten mehr. Es reichte zur Totalkatastrophe, aber gegen die 20-Meter-Front des Tsunamis, der in diesen Minuten uber den Schelf fegte, waren sie lahme Enten.

Die meisten der Schlepper, Tanker und Fahren, die gerade das Pech hatten, auf der Nordsee unterwegs zu sein, wurden wie Spielzeug herumgeworfen. Einige krachten zusammen, andere wurden gegen die Betonpfosten der Plattformen geschmettert oder gegen die Verladebojen, an denen sie ankerten. Der Wucht des Aufpralls waren selbst Stahlbetonstutzen nicht gewachsen. Viele der Kolosse begannen einzubrechen. Was standhielt, entging dennoch nicht der Zerstorung, als die kollidierenden, teils voll beladenen Schiffe explodierten und riesige Feuerwolken auf die Plattformen ubergriffen. In Kettenreaktionen flogen ganze Landschaften aus Forderturmen in die Luft. Brennende Trummer wurden Hunderte von Metern weit geschleudert. Der Tsunami riss am Meeresgrund verankerte Plattformen los und kippte sie um. All das geschah nur Minuten, nachdem die kreisformige Welle vom Zentrum der unterseeischen Rutschung losgerast war auf ihrem Weg zu den Kusten der umliegenden Landmassen.

Jedes einzelne der Ereignisse verkorperte den Alptraum der Schifffahrt und der Offshore-Industrie schlechthin. Was an jenem Nachmittag auf der Nordsee geschah, war jedoch mehr als ein vereinzelter, wahr gewordener Alptraum.

Es war die Apokalypse.

Die Kuste

Acht Minuten nach dem Absturz des Schelfs war der Tsunami gegen die Klippen der Faroer-Inseln geschlagen, vier Minuten spater hatte er die Shetlands erreicht, weitere zwei Minuten spater prallte er gegen das schottische Festland und den sudwestlichen Buckel Norwegens.

Um Norwegen als Ganzes zu uberfluten, bedurfte es vermutlich jenes Kometen, von dem man annahm, dass er die Menschheit ausloschen wurde, sollte er jemals ins Meer sturzen. Das Land war ein einziges Gebirge, gesaumt von einer Steilkuste, an deren oberen Rand so schnell keine Welle schlug.

Aber Norwegen lebte vom und auf dem Wasser, und die meisten der wichtigsten Stadte lagen auf Meeresspiegelhohe am Fu? der gewaltigen Gebirge. Von der See trennten sie lediglich kleine, flache Inseln, oder sie lagen auf den Inseln selber. Hafenstadte wie Egersund, Haugesund und Sandnes im Suden waren der heranrollenden Welle ebenso ausgeliefert wie Alesund und Kristiansund weiter nordlich und hunderte kleinerer Orte ringsum.

Am schlimmsten erwischte es Stavanger.

Wie sich ein Tsunami entwickelte, wenn er die Kuste erreichte, hing von unterschiedlichsten Faktoren ab. Dazu gehorten Riffs, Flussmundungen, unterseeische Gebirge und Sandbanke, vorgelagerte Inseln oder schlicht die Neigung des Strandes. Alles konnte die Wirkung entweder abschwachen oder verstarken. Stavanger, das Zentrum der norwegischen Offshore-Industrie, Schlusselstadt des Handels und der Schifffahrt, eine der altesten, schonsten und reichsten Stadte Norwegens, lag so gut wie ungeschutzt direkt am Meer. Lediglich eine Reihe flacher Inselchen erstreckte sich oberhalb des Hafens, verbunden durch Brucken. Unmittelbar vor dem Eintreffen der Welle war eine Warnung der norwegischen Regierung an die Behorden der Stadt ergangen, die sofort uber alle Radio-und Fernsehstationen und via Internet verbreitet wurde, aber es blieb lacherlich wenig Zeit. An eine Evakuierung war nicht mehr zu denken. Der Warnung folgte ein beispielloses Durcheinander in den Stra?en. Niemand konnte sich recht vorstellen, was da auf Stavanger zukam. Anders als in den Anrainerstaaten des Pazifiks, die seit Menschengedenken mit Tsunamis lebten, gab es im Atlantikraum, in Europa und im Mittelmeer keine Warncenter. Wahrend das PTWS, das Pacific Tsunami Warning System, mit Hauptsitz auf Hawaii in uber zwanzig Pazifikstaaten vertreten war, zu denen von Alaska uber Japan und Australien bis Chile und Peru so ziemlich jede Kustennation gehorte, wusste man in einem Land wie Norwegen nicht das Geringste uber Tsunamis. Nicht zuletzt darum verstrichen die letzten Minuten Stavangers in ratlosem Entsetzen.

Die Welle brach uber die Stadt herein, ohne dass jemand rechtzeitig hinausgefunden hatte. Noch wahrend sie die Pfeiler der Inselbrucken knickte, wuchs sie weiter an. Unmittelbar vor der Stadt turmte sich der Tsunami zu seinen ganzen drei?ig Metern Hohe auf, aber aufgrund seiner extremen Wellenlange brach er nicht sofort, sondern knallte senkrecht gegen die Hafenbefestigungen, schlug Kais und Gebaude in Stucke und raste weiter stadteinwarts. Die Altstadt mit ihren historischen Holzhausern aus dem spaten 17. und fruhen 18. Jahrhundert wurde dem Erdboden gleichgemacht. Im Vagen, dem alten Hafenbecken, staute sich die Welle und fiel uber die Innenstadt her. In Stavangers altestem Gebaude, der anglo-normannischen Domkirche, schlugen die Fluten zuerst samtliche Fenster aus, bevor sie die Mauern zum Einsturz brachten, und auch diese Trummer trugen sie mit sich fort. Was immer im Weg stand, wurde mit der Wucht eines Raketenangriffs hinweggefegt. Nicht nur das Wasser zerstorte die Stadt, sondern auch mitgefuhrter Schlamm, tonnenschwere Steine, Schiffe und Autos, die wie Geschosse einschlugen.

Inzwischen hatte sich die vertikale Wand in einen Berg aus tosender Gischt verwandelt. Der Tsunami walzte sich nun weniger schnell durch die Stra?en, dafur chaotisch turbulent. In der Gischt wurde Luft eingeschlossen und beim Aufprall komprimiert, was einen Druck von uber funfzehn Bar erzeugte, genug, um Panzerplatten zu zerbeulen. Das Wasser knickte Baume wie Streichholzer. Sie wurden Teil des Bombardements. Keine Minute, nachdem die Welle auf die ersten Befestigungen geprallt war, waren die kompletten Hafenanlagen vernichtet und die dahinter liegenden Viertel zerstort. Noch wahrend die Wassermassen durch die Stra?en schossen, erschutterten die ersten Explosionen die Stadt.

Fur die Menschen in Stavanger gab es nicht die geringste Uberlebenschance. Wer versuchte, vor der Wasserwand davonzulaufen, die plotzlich in den Himmel ragte, rannte vergeblich. Die uberwiegende Anzahl der Opfer wurde erschlagen. Das Wasser war wie Beton. Man spurte nichts. Kaum anders erging es denen, die wie durch ein Wunder den Aufprall uberlebten, um dann gegen Hauser geschmettert oder zwischen Trummerteilen zermalmt zu werden. Paradoxerweise ertrank so gut wie niemand, sah man von jenen ab, die in den zulaufenden Kellern gefangen waren. Selbst dort wurden die meisten schon durch die Wucht der hereinstromenden Wassermassen getotet oder erstickten im zusatzlich eindringenden Schlamm. Wer schlie?lich ertrank, starb einen schrecklichen, aber wenigstens schnellen Tod. Kaum einer von ihnen registrierte, was mit ihm geschah. Von jeder Sauerstoffzufuhr abgeschnitten, trieben die Korper der Eingeschlossenen im lichtlosen, wenige Grad kalten Wasser. Das Herz begann unregelma?ig zu schlagen, transportierte weniger Blut und kam schlie?lich zum Stillstand, wahrend sich der Metabolismus extrem verlangsamte. Dadurch lebte das Gehirn noch eine Weile weiter. Erst zehn bis zwanzig Minuten spater erlosch die letzte elektrische Aktivitat, und der endgultige Tod trat ein.