Er sah einen schwarzen Schatten uber sich hinwegziehen. Ein weiterer folgte. Die Tiere beachteten ihn nicht. Genau, dachte Greywolf, ich bin euer Freund. Ihr lasst mich in Ruhe. Naturlich wusste er, dass die Erklarung viel profaner war, dass ihn die Tiere schlicht ubersahen. Diese Orcas waren niemandes Freund. Sie waren schon langst nicht mehr sie selbst, sondern wurden missbraucht von einer Rasse, die nicht weniger skrupellos vorging als der Mensch.

Aber auch das wurde wieder in Ordnung kommen.

Irgendwann. Und der Graue Wolf wurde ein Orca werden.

Konnte es einen schoneren letzten Gedanken geben?

Er atmete aus.

Peak

»Sind Sie eigentlich vollkommen wahnsinnig geworden?«

Peaks Stimme hallte an den Wanden der Rampe wider. Li eilte ihm voraus. Er versuchte, den pochenden Schmerz in seinem Fu?gelenk zu ignorieren und mit ihr Schritt zu halten. Sie hatte das Maschinengewehr weggeworfen und hielt stattdessen ihre Pistole in der Hand.

»Gehen Sie mir nicht auf die Nerven, Sal.« Li steuerte den nachsten Niedergang an. Nacheinander kletterten sie ins nachsthohere Level. Hier mundete der Gang zum geheimen Bereich. Aus dem Bauch des Schiffes drang enervierendes Wimmern und Drohnen. Dann folgte eine neuerliche Explosion. Der Boden wankte heftig und neigte sich, sodass sie einen Moment innehalten mussten. Vermutlich hatten einige Schotts dem Wasserdruck nicht mehr standgehalten. Die Independence wies mittlerweile eine deutliche Schieflage auf, und sie mussten den Gang aufwarts laufen. Aus dem Kontrollraum kamen ihnen Manner und Frauen entgegengerannt. Sie starrten auf Li in Erwartung von Befehlen, aber die Kommandantin stapfte einfach weiter.

»Nicht auf die Nerven?« Peak verstellte ihr den Weg. Er fuhlte, wie sein Entsetzen blanker Wut wich. »Sie knallen wahllos Leute ab. Andere lassen Sie umbringen. Was soll das, verdammt? Das ist unverhaltnisma?ig! Das war nie geplant und nie besprochen!«

Li sah ihn an. Ihr Gesicht war vollkommen ruhig, aber die blauen Augen flackerten. Nie zuvor hatte Peak dieses Flattern darin gesehen. Plotzlich wurde ihm klar, dass diese hoch gebildete, vielfach ausgezeichnete Soldatin einen ausgemachten Dachschaden hatte.

»Mit Vanderbilt war es besprochen«, sagte Li.

»Mit der CIA?«

»Mit Vanderbilt von der CIA.«

»Sie haben sich mit diesem Drecksack auf einen derartigen Irrsinn eingelassen?« Peak krauselte angewidert die Lippen. »Ich konnte kotzen, Jude. Wir sollten helfen, das Schiff zu evakuieren.«

»Au?erdem ist es abgesprochen mit dem Prasidenten der Vereinigten Staaten«, fugte Li hinzu.

»Niemals!«

»Mehr oder weniger.«

»Nicht so! Das glaube ich Ihnen nicht!«

»Er wurde es billigen.« Sie drangte sich an ihm vorbei. »Jetzt gehen Sie mir endlich aus dem Weg. Wir verlieren Zeit.«

Peak hastete ihr hinterher. »Diese Menschen haben Ihnen nichts getan. Sie haben ihr Leben riskiert. Die ziehen doch am gleichen Strang wie wir! Warum konnten wir sie nicht einfach festsetzen?«

»Wer nicht fur mich ist, ist gegen mich. Haben Sie das noch nicht gemerkt, Sal?« »Johanson war nicht gegen Sie.«

»Doch, von Anfang an.« Sie wirbelte herum und sah zu ihm hoch. »Sind Sie eigentlich blind oder verblodet, oder was? Sehen Sie nicht, was passieren wurde, wenn Amerika diese Schlacht nicht fur sich entscheidet? Jeder andere, der sie gewinnen wurde, hatte uns im selben Moment eine Niederlage zugefugt.«

»Es geht aber nicht um Amerika! Es geht um die ganze Welt.«

»Die Welt ist Amerika!«

Peak starrte sie an. »Sie sind verruckt«, flusterte er.

»Nein, ich bin Realist, Sie schwarzer Esel. Und Sie tun, was ich sage. Sie stehen unter meinem Kommando!« Li setzte sich wieder in Bewegung. »Los jetzt. Wir haben einen Auftrag zu erfullen. Ich muss mit dem Tauchboot runter, bevor uns das ganze Schiff um die Ohren fliegt. Helfen Sie mir, die beiden Torpedos mit Rubins Gift zu finden, danach konnen Sie sich meinetwegen absetzen.«

Rampe

Weaver schwankte eine Sekunde, wohin sie sich wenden sollte, als sie vom oberen Ende der Rampe Stimmen horte. Li und Peak waren verschwunden. Wahrscheinlich auf dem Weg in Rubins Geheimlabor, um den Giftstoff zu holen. Sie lief zum Knick und sah Anawak und Johanson aufeinander gestutzt die Rampe herunterkommen.

»Leon«, rief sie. »Sigur!«

Sie rannte auf die beiden zu und umarmte sie. Sie musste ihre Arme sehr weit ausstrecken, aber sie hatte das dringende Bedurfnis, die Manner an sich zu drucken. Ganz besonders einen von ihnen. Offenbar schoss sie dabei ubers Ziel hinaus, denn Johanson stohnte auf.

Sie zuckte zuruck. »Entschuldige …«

»Sind nur die Knochen.« Er wischte sich das Blut aus dem Bart. »Der Geist ist willig, und so weiter. Was ist passiert?«

»Was ist euch passiert?«

Der Boden rumpelte unter ihren Fu?en. Ein lang gezogenes Quietschen drang aus dem Rumpf der Independence. Ganz leicht neigte sich der Boden ein Stuck weiter bugwarts.

Sie berichteten einander in hastigen Worten. Anawak war sichtlich mitgenommen von Greywolfs Tod.

»Hat einer von euch eine Ahnung, was mit dem Schiff geschehen ist?«, fragte er.

»Nein, aber ich furchte, daruber konnen wie uns jetzt nicht den Kopf zerbrechen.« Weaver sah sich gehetzt um. »Ich schatze, wir mussen zwei Dinge gleichzeitig erledigen. Lis Tauchgang verhindern und uns irgendwie in Sicherheit bringen.«

»Du meinst, sie wird ihren Plan ausfuhren?«

»Klar wird sie das«, knurrte Johanson. Er legte den Kopf in den Nacken. Vom Flugdeck drang Larm zu ihnen herunter. Sie horten das Knattern von Rotoren. »Merkt ihr was? Die Ratten verlassen das Schiff.«

»Was ist los mit Li?« Anawak schuttelte fassungslos den Kopf. »Warum hat sie Sue erschossen?«

»Sie wollte auch mich umbringen. Li wird jeden toten, der ihr im Wege steht. Sie war nie interessiert an einer friedlichen Losung.«

»Aber mit welchem Ziel?«

»Egal«, sagte Johanson. »Ihr Zeitplan durfte sich stark verknappt haben. Jemand muss sie aufhalten. Sie darf dieses Zeug nicht nach unten bringen.«

»Richtig«, sagte Weaver. »Dafur bringen wir das nach unten.«

Erst jetzt schien Johanson den Kasten in Weavers Handen zu bemerken. Er riss die Augen auf.

»Sind das die Pheromon-Extrakte?«

»Ja. Sues Vermachtnis.«

»Gut, aber wie hilft uns das im Augenblick weiter?«

»Na ja, ich habe eine Idee.« Sie zogerte. »Keine Ahnung, ob sie funktioniert. Ich hatte sie schon gestern, aber sie schien mir nicht wirklich durchfuhrbar zu sein. — Inzwischen hat sich einiges geandert.«

Sie erklarte es ihnen.

»Klingt gut«, beschied Anawak. »Aber das erfordert au?erste Schnelligkeit. Im Grunde bleiben uns nur Minuten. Sobald der Kahn absauft, sollten wir irgendwo auf dem Trockenen sein.«

»Ich wei? vor allen Dingen nicht, wie genau wir es bewerkstelligen konnen«, gab Weaver zu.

»Aber ich.« Anawak zeigte zur Rampe. »Wir brauchen ein Dutzend subkutaner Spritzen. Darum kummere ich mich. Ihr geht runter und macht das Tauchboot klar.« Er uberlegte. »Und wir brauchen … Warte mal! Meinst du, im Labor findest du jemanden …?«

»Ja. Finde ich. Wo willst du die Spritzen auftreiben?«

»Im Hospital.«

Uber ihnen verstarkte sich der Larm. Sie sahen einen Helikopter im Durchgang zum Backbordlift auftauchen und dicht uber die Wellen hinwegziehen. Der Stahl des Hangardecks achzte. Das ganze Schiff begann sich zu verformen.

»Beeil dich«, sagte Weaver.

Anawak sah ihr in die Augen. Einen Moment lang hingen sie aneinander fest. Verdammt, dachte Weaver, warum erst jetzt?

»Verlass dich drauf«, sagte er.