Stell dir vor, die Yrr sind die gewollte Rasse.
Die gottliche.
Systemcheck.
Weaver ruft ihre partikelgewordenen Gedanken zuruck, die soeben Afrika passiert haben. Sie muss sich dazu zwingen, sich auf den Moment zu konzentrieren. Ebenso gut konnte sie schon hundert Jahre unterwegs sein. Drau?en zieht in einiger Entfernung geisterhaftes Leuchten vorbei, aber es sind nicht die Yrr, sondern Schwarme winziger Leuchtgarnelen. So genau lasst sich das nicht erkennen. Vielleicht sind es auch kleine Tintenfische oder etwas vollig anderes.
Zweieinhalbtausend Meter.
Noch etwa tausend Meter bis zum Grund. Um sie herum sollte nichts als freies Wasser sein, aber plotzlich beginnt das Sonar hektisch zu klicken. Es sagt ihr, dass sie sich etwas Massivem nahert. Es muss von gewaltiger Gro?e sein, und genau genommen nahert es sich ihr. Eine undurchdringliche Flache, die von oben herabsinkt, geradewegs auf sie zu. Weaver fuhlt ihre latente Angst in Panik umkippen. Sie fliegt eine 180-Grad-Kurve, wahrend das Riesending naher kommt. Die Au?enmikrophone leiten hohlen, unirdischen Krach ins Innere des Deepflight, der immer lauter wird, ein gespenstisches Heulen und Stohnen. Weaver ist versucht, die Flucht zu ergreifen, doch dann siegt die Neugier. Sie hat genug Abstand zwischen sich und das unbekannte Etwas gelegt, und es sieht nicht so aus, als sei das Wesen hinter ihr her.
Falls es uberhaupt ein Wesen ist.
Nach einer weiteren Kurve gleitet sie mit verminderter Geschwindigkeit wieder darauf zu. Es ist jetzt auf ihrer Hohe, dicht vor ihr. Das Deepflight zittert in Turbulenzen.
Turbulenzen?
Was kann so gro? werden? Ein Wal? Aber das hier hat die Ausma?e von zehn Walen. Oder von hundert. Oder noch mehr.
Sie schaltet die Scheinwerfer ein.
Im selben Moment erkennt sie, dass sie dem Ding naher gekommen ist als beabsichtigt. Am Rand des Lichtkegels wird es sichtbar. Einen Moment lang ist Weaver vollkommen verwirrt, au?erstande, Art und Herkunft der glatten Flache zu bestimmen, die da an ihr vorbeizieht, bis plotzlich etwas Helles in den Scheinwerfern aufleuchtet. Es sind meterlange geschwungene und gerade Linien, auf schreckliche Weise vertraut, und sie ergeben:
Der Schock lasst sie aufschreien.
Vollig ohne Nachhall verklingt der Schrei und bringt ihr ins Bewusstsein, wie abgekapselt sie in ihrer Rohre ist. Und wie einsam. Noch einsamer jetzt, nachdem sie das Schiff an sich vorbeisinken sieht, und ihre Gedanken rasen zu Anawak, Johanson, Crowe, Shankar, den anderen.
Leon!
Fassungslos starrt und starrt sie.
Die Kante des Flugdecks taucht kurz auf und verschwindet wieder. Der Rest bleibt im Dunkel verborgen. Nur wild tanzende Blasen von entweichender Luft sind noch zu sehen.
Dann folgt der Sog und rei?t das Deepflight mit hinab.
Nein!
Fieberhaft versucht sie, das Boot zu stabilisieren. Verdammte Neugier! Warum hat sie nicht in gebuhrendem Abstand warten konnen? Die Systeme zeigen an, dass alles Mogliche nicht in Ordnung ist. Weaver steuert gegen und zieht bei maximaler Schubkraft nach oben. Das Boot kampft und taumelt, folgt der Independence in ihr Grab, dann endlich stellt die Konstruktion ihre ganze Genialitat unter Beweis, und sie entkommt dem Sog und schnellt nach oben.
Von einer Sekunde auf die andere ist alles wieder so, als sei nichts gewesen.
Weaver kann ihr Herz klopfen horen. Es drohnt in ihren Ohren. Wie ein Kolben schie?t das Blut in ihren Kopf. Sie schaltet die Scheinwerfer aus, senkt das Deepflight behutsam ab und setzt ihren Anflug auf die Tiefe des Gronlandischen Beckens fort.
Nach einer Weile, es konnen Minuten oder nur Sekunden sein, weint sie. Alles bricht sich Bahn. Sie heult wie ein Schlosshund. Was hat das zu bedeuten? Sie wusste, dass die Independence sinken wird, alle wussten es, aber so schnell?
Doch, auch das haben wir gewusst.
Aber sie wei? nicht, ob Leon noch lebt. Und was mit Sigur ist.
Sie fuhlt sich schrecklich allein.
Ich will zuruck.
Ich will zuruck!
»Ich will zuruck!«
Tranenuberstromt, mit bebenden Lippen, beginnt sie am Sinn ihrer Mission zu zweifeln. Sie hat die Yrr nicht zu Gesicht bekommen, obwohl sie dem Meeresboden immer naher kommt. Sie checkt die Instrumente. Der Computer beruhigt sie. Er sagt, sie sei nun beinahe eine halbe Stunde unterwegs und 2700 Meter tief.
Eine halbe Stunde. Wie lange soll sie hier unten noch ausharren?
Willst du alles sehen?
Was?
Willst du alles sehen, kleiner Partikel?
Weaver zieht die Nase hoch. Ein lautes und vernehmliches Schniefen, sehr irdisch im schwarzen Wunderland der Gedanken.
»Papa?«, wimmert sie.
Ruhig. Beruhige dich.
Ein Partikel fragt nicht danach, wie lange etwas dauert. Er bewegt sich einfach nur oder steht still. Er vollzieht den Rhythmus der Schopfung, ein folgsamer Diener des Ganzen. Dieses standige Fragen nach Dauer ist nur dem Menschen eigentumlich dieses Ankampfen gegen die eigene Natur, das Einteilen von Lebenszeit. Die Yrr interessieren sich nicht fur Zeit. Sie tragen die Zeit in ihrem Genom, den Anbeginn des zellularen Lebens, als ozeanische Gesteinsblocke vor 200 Millionen Jahren mit der Kontinentalmasse verwachsen, die das heutige Nordamerika bildet, als Gronland vor 65 Millionen Jahren von Europa wegzudriften begann, als sich vor 36 Millionen Jahren die topographischen Merkmale des Atlantiks ausformten, als Spanien noch weit von Afrika entfernt lag, als die untermeerischen Schwellen so weit absanken, dass vor 20 Millionen Jahren endlich der Wasseraustausch zwischen dem Arktischen und dem Atlantischen Ozean in Fluss kam, dem du deine Reise verdankst, Partikel, die hier im Gronlandischen Becken begonnen hat und dich weiterfuhren wird, an Afrika vorbei dem Suden zu, zur Antarktis.
Du bist unterwegs zum zirkumpolaren Strom, dem Rangierbahnhof der Meeresstromungen, zum ewigen Kreislauf. Von der Kalte in die Kalte.
Zwar nur ein Partikel, bist du Teil einer Gesamtheit, die der Wassermenge von 80 Amazonas entspricht. Ihr flie?t uber den Meeresboden, passiert den Aquator und gelangt ins sudatlantische Meeresbecken bis zur untersten Spitze Sudamerikas. Bis hierhin verlief euer Fluss gleichma?ig und ruhig. Doch jenseits von Kap Horn gelangt ihr in sturmische Turbulenzen. Taumelnd und hupfend wirst du hineingerissen in etwas, das dem Hauptverkehr rund um den Arc de Triomphe zur Mittagszeit gleicht, nur unendlich viel gewaltiger. Der Antarktische Zirkumpolarstrom bewegt sich von Westen nach Osten um den wei?en Kontinent, ein Rangierbetrieb, in den alle Meere ein— und aus dem sie hervorgehen. Der kreisrunde Strom kommt nie zum Stillstand, prallt niemals gegen Land. Endlos jagt er sich selber. Er fuhrt das Wasser von 800 Amazonas in sich, saugt alle Weltgewasser in sich hinein, zerrei?t und mischt sie, loscht ihre Herkunft und Identitat aus. Unmittelbar vor der Antarktis schwemmt es dich hoch in bibbernden Frost. Du treibst mit schaumenden Brechern uber die Oberflache und sinkst langsam wieder hinab, um Teil des gro?en, zirkumpolaren Karussells zu werden.
Es tragt dich ein Stuck mit und speit dich wieder aus.
Erneut wanderst du nach Norden, in 800 Meter Tiefe. Alle Meere speisen sich aus dem kreisrunden, antarktischen Strom. Einiges Wasser gelangt zuruck ins Zwischengeschoss des Atlantiks, anderes in den Indischen Ozean und das meiste in den Pazifik, auch du. Geschmiegt an Sudamerikas Westflanke stromst du bis zum Aquator, wo die Passatwinde die Wasser teilen und tropische Hitze dich erwarmt. Du steigst zur Oberflache und wirst nach Westen gezogen, mitten hinein ins Durcheinander Indonesiens: Inseln und Inselchen, Stromungen, Strudel, Untiefen und Wirbel, ein Durchkommen scheint unmoglich. Sudlich treibt es dich an den Philippinen vorbei und durch die Makassarstra?e zwischen Borneo und Sulawesi. Du konntest dich durch die Lombokstra?e quetschen, aber da gibt es diese Umgehungsstra?e ostlich um Timor herum, eine bessere Route, uber die du endlich den offenen Indischen Ozean erreichst.