Jetzt auf Afrika zu.

Die warmen Untiefen des Arabischen Meeres sattigen dich mit Salz. Entlang Mosambik reist du nach Suden, Agulhasstrom hei?t eure Reisegesellschaft jetzt. Du flie?t immer schneller in Vorfreude auf den Ozean deiner Herkunft, sturzt dich in das gro?e Abenteuer, das so viele Seeleute das Leben gekostet hat, das Kap der Guten Hoffnung — und wirst zuruckgeworfen. Zu viele Stromungen prallen hier aufeinander. Der antarktische Place de l’Etoile mit seinem Freitagnachmittagsverkehr ist allzu nahe. Sosehr du dich muhst, du kommst nicht recht voran. Schlie?lich lost du dich mit anderen in einem Wirbel von der Hauptstromung, und endlich treibst du in den Sudatlantik. Mit der Aquatorstromung driften du und deinesgleichen nach Westen, in riesigen Wirbeln dreht ihr euch vorbei an Brasilien und Venezuela bis nach Florida und werdet auseinander gerissen.

Du hast die Karibik erreicht, das Geburtsbecken des Golfstroms. Aufgeladen mit tropischer Sonne beginnst du deinen Zug hinauf nach Neufundland und weiter in Richtung Island, treibst stolz an der Oberflache und verteilst generos deine Warme an Europa, als hattest du endlos davon. Unmerklich wird dir kalter, und das verdunstende Wasser des Nordatlantiks hinterlasst dir eine Burde aus Salz, die immer schwerer wiegt, und plotzlich findest du dich uber dem Gronlandischen Becken wieder, dem Ausgangspunkt deiner Reise.

Du warst eintausend Jahre unterwegs.

Seit der Isthmus von Panama den Pazifik vom Atlantik trennte, nehmen Wasserpartikel diesen Weg, seit mehr als drei Millionen Jahren. Seitdem gilt, dass nur eine Verschiebung der Kontinente den Verlauf der thermohalinen Zirkulation verandern konnte. Galt! Der Mensch hat das Klima aus dem Gleichgewicht gebracht. Und wahrend sich die Klimakontrahenten noch daruber verbreiten, ob diese Erwarmung zu einem Abschmelzen der Polkappen und damit zu einem Stopp des Golfstroms fuhren konnte oder nicht, stoppt er bereits, weil die Yrr ihn stoppen. Sie stoppen die Reise der Partikel, sie stoppen die Warme fur Europa, sie stoppen die Zukunft der selbst ernannten Rasse Gottes. Denn sie wissen sehr genau, was geschehen wird, wenn die Zirkulation zum Erliegen kommt, ganz im Gegensatz zu ihren Feinden, die niemals wissen, welche Folgen ihr Handeln nach sich zieht, die sich nicht an die Zukunft erinnern, weil ihnen das genetische Gedachtnis fehlt, die Erkenntnis, wie aus Anfang Ende und aus Ende Anfang wird im Sinnschluss der Schopfung.

Tausend Jahre, kleiner Partikel. Mehr als zehn Menschengenerationen, und du hast die Welt einmal umrundet.

Tausend solcher Reisen, und der Meeresboden hat sich einmal vollstandig erneuert.

Hunderte solcher Erneuerungen, und Meere sind verschwunden, Kontinente auseinander gerissen worden, wahrend andere zusammenwuchsen, neue Ozeane sind entstanden, das Gesicht der Welt hat sich gewandelt.

Eine Sekunde deiner Reise, kleiner Partikel, und einfachstes Leben entsteht und vergeht. Nanosekunden, und Elementarteilchen wechseln ihre Platze. In noch kurzerer Zeit vollziehen sich chemische Reaktionen.

Irgendwo dazwischen der Mensch.

Uber allem die Yrr.

Der sich seiner selbst bewusst gewordene Ozean.

Du hast die Welt durchreist, wie sie war und wie sie ist, als Teil des gro?en Kreislaufs, der keinen Anfang und kein Ende kennt, nur Variation und Wiederkehr. Seit dieser Planet geboren wurde, verandert er sich. Alle Lebewesen bilden ein einziges Gewebe, das die Erde uberzieht, untrennbar in ihren Ernahrungsbeziehungen miteinander verbunden. Einfaches wechselt mit Komplexem, viel Leben ist auf ewig verschwunden, anderes entwickelt sich neu, manches war immer da und wird die Erde besiedeln, bis sie in die Sonne sturzt.

Irgendwo dazwischen der Mensch.

Irgendwo in allem die Yrr.

Was siehst du?

Was siehst du?

Weaver fuhlt sich unglaublich mude, als sei sie Jahre unterwegs gewesen. Ein muder kleiner Partikel, traurig und einsam.

»Mama? Papa?«

Sie muss sich zwingen, ihren Blick auf die Kontrollen zu lenken.

Innendruck, okay. Sauerstoff, okay.

Neigung: null.

Null?

Das Deepflight liegt waagerecht. Sie stutzt. Plotzlich ist sie wieder hellwach. Auch die Kontrolle fur die Sinkgeschwindigkeit zeigt null an.

Tiefe: 3466 Meter.

Schwarze ringsum.

Das Boot sinkt nicht mehr. Es liegt auf Grund. Sie hat den Boden des Gronlandischen Beckens erreicht.

Kaum traut sie sich, auf die Uhr zu sehen, weil sie Angst hat, etwas Schreckliches darauf zu erblicken — dass sie schon Stunden unten ist, dass sie nicht mehr genug Sauerstoff haben wird, um zur Oberflache zuruckzukehren, irgendetwas in dieser Art. Aber die Digitalanzeige verkundet in ruhigem Leuchten, ihr Sinkflug habe vor 35 Minuten begonnen. Sie war nicht wirklich weggetreten. Nur an die Landung kann sie sich nicht erinnern, aber offenbar hat sie alles richtig gemacht. Die Propeller sind gestoppt, die Systeme aktiv. Sie konnte sofort wieder aufsteigen.

Und plotzlich beginnt es.

Kollektiv

Zuerst glaubt Weaver an eine Sinnestauschung. Ein blauer Schimmer, schwach und in einiger Entfernung. Als habe jemand tief dunkelblauen Staub von einer uberdimensionalen Handflache geblasen, wirbelt die Erscheinung auf und verloscht wieder.

Ein neues Aufleuchten, diesmal naher und gro?flachiger. Es bleibt und zieht sich in einem Bogen uber das Boot hinweg, sodass Weaver nach oben schauen muss. Was sie erblickt, erinnert sie an eine kosmische Wolke. Es ist unmoglich zu sagen, wie weit entfernt und wie gro? die Wolke ist, aber sie vermittelt ihr das Gefuhl, nicht den Grund des Meeres, sondern den Rand einer fernen Galaxis erreicht zu haben.

Dann verschwimmt das Blau. Einen Moment lang glaubt sie, es werde schwacher, um gleich darauf zu erkennen, dass sie einer Sinnestauschung aufsitzt, denn tatsachlich geht diese Wolke in einer gro?eren auf, die sich langsam auf das Boot herniedersenkt.

Plotzlich wird ihr klar, dass es keine gute Idee ist, auf dem Meeresboden zu liegen, wenn sie Rubin loswerden will.

Und dafur ist jetzt der Moment. Jetzt oder nie.

Sie kippt die Seitenflugel und startet die Propeller. Das Deepflight schurft ein kurzes Stuck uber den Boden, wirbelt Sediment auf und hebt ab. Blitze zucken uber unermessliche, nachtschwarze Horizonte, und Weaver erkennt, dass die Verschmelzung eingesetzt hat.

Das Kollektiv ist riesig.

Von allen Seiten rast das blauwei?e Leuchten heran. Das Deepflight hangt inmitten der verschmelzenden Wolke. Weaver wei?, dass die Gallerte zu einem au?erst zahen Gewebe kontraktieren kann — sie will lieber nicht daruber nachdenken, was mit ihrem Tauchboot passiert, wenn sich der Muskel aus Einzellern um sie schlie?t. Kurz hat sie das Bild einer Faust vor Augen, die ein rohes Ei zerdruckt.

Sie ist etwas mehr als zehn Meter uber dem Boden.

Das muss reichen.

Jetzt.

Ein Fingerdruck, der alles entscheidet. Einmal nicht richtig hingeschaut, vor Nervositat oder Angst zittrig geworden, und sie offnet die falsche Abdeckung und wird augenblicklich sterben. In dreieinhalbtausend Meter Tiefe herrscht ein Druck von 385 Atmospharen. Man verliert nicht unbedingt seine au?ere Gestalt, aber definitiv sein Leben.

Doch Weaver offnet die richtige Haube.

Neben ihr stellt sich die Abdeckung der Copilotenrohre senkrecht.

Explosionsartig schie?t Luft nach drau?en und rei?t Rubins Korper hoch und ein Stuck nach drau?en. Weaver beschleunigt ihr Unterwasserflugzeug, das mit geoffneter Rohre kaum noch steuerbar ist, und lasst es unvermittelt absturzen, wodurch Rubin endgultig hinauskatapultiert wird. Vor dem blauwei?en, naher ruckenden Gewitter schwebt er als schwarze Silhouette. Der fremde Lebensraum zerquetscht sein Gewebe und seine Organe, zerdruckt seinen Schadel, bricht ihm unter dem Druck seiner eigenen Muskulatur die Knochen und presst seine Korperflussigkeiten nach drau?en.