Delaware nickte. »Aber er war nicht charmant.«

»Eine Weile schon. Wir hatten plotzlich jede Menge weiblichen Zulauf. Alles lief bestens — bis zu dem Tag, wo

er dann doch jemandem eine reingehauen hat.«

»Doch nicht einem der Gaste?«

»Du hast es erfasst.«

»Au Backe.«

»Tja. Davie wollte ihn feuern. Ich habe mit Engelszungen auf ihn eingeredet, Jack eine zweite Chance zu geben. Wir haben ihn also nicht rausgeworfen. Aber was macht dieser Idiot?« Da war sie wieder, die Wut auf Greywolf. »Drei Wochen spater dieselbe Nummer. Da musste Davie ihn feuern. Was hattest du denn gemacht?«

»Ich glaube, ich hatte ihn schon nach dem ersten Mal vor die Tur gesetzt«, sagte Delaware leise.

»Um deine Zukunft muss ich mir wenigstens keine Sorgen machen«, spottete Anawak. »Jedenfalls, wenn du dich fur jemanden stark machst, und er dankt es dir so, hat jede Sympathie irgendwann ein Ende.«

Er sturzte den Orangensaft hinunter, verschluckte sich und hustete. Delaware langte hinuber und schlug ihm sacht auf den Rucken.

»Danach ist er vollig durchgedreht«, keuchte er. »Jack hat ein zweites Problem, eines mit der Realitat. Irgendwann in seinem Frust ist wohl der gro?e Manitou uber ihn gekommen und hat gesagt, ab heute hei?t du Greywolf, und du schutzt die Wale und alles, was da kreucht und fleucht, so ein verdammter Schwachsinn! Gehe hin und kampfe. Klar, dass er sauer auf uns war, also hat er sich eingeredet, gegen uns kampfen zu mussen, und zu allem Uberfluss glaubt er auch noch, ich sei auf der falschen Seite und hatte es nur noch nicht gemerkt.« Anawak wurde immer zorniger. Sein Zorn wuchs ins Uferlose. »Er wirft alles durcheinander. Er hat keine Ahnung von Naturschutz und keine von den Indianern, denen er sich so zugehorig fuhlt. Die Indianer lachen sich tot uber ihn. Warst du bei ihm zu Hause? Ach nein, du hast ihn ja in der Kneipe aufgegabelt! Voller Indianerkitsch, die Bude. Ja. Sie lachen sich tot, bis auf diejenigen unter ihnen, die selber nichts drauf haben, Jugendliche, die rumhangen, Arbeitsverweigerer, Schlager und Saufer. Die finden ihn toll, und auch der Haufen wei?er Althippies und Surfer, die es nicht abkonnen, dass ihnen die Touristen beim Faulenzen zusehen, schauen zu ihm auf, ehemalige Wildcamper, die jetzt nicht mehr uberall hinschei?en und ihren Mull zurucklassen konnen. Greywolf hat den Abschaum zweier Kulturen um sich versammelt, Anarchisten und Versager, Aussteiger, Neoaktivisten gegen die Staatsgewalt, militante Umweltfreaks, die sie bei Greenpeace rausgeworfen haben, weil sie schlecht fur deren Ruf waren, Indianer, die nicht mal bei ihren Stammen erwunscht sind, kriminelles Gesindel. Den meisten dieser Strauchdiebe sind die Wale schei?egal, sie wollen ein bisschen randalieren und sich wichtig tun, nur Jack kriegt nichts davon mit und glaubt allen Ernstes, seine Seaguards seien eine Umweltorganisation. Er finanziert das Pack, stell dir das vor, indem er als Holzfaller und Barenfuhrer arbeitet und selber in einer Bruchbude lebt, dass du sie keinem Hund zumuten wurdest! Das ist doch Schei?e! Warum lasst er zu, dass sich alle uber ihn lustig machen? Warum wird jemand wie Jack zur tragischen Figur, he? Dieser Riesenarsch! Kannst du mir das sagen?«

Anawak hielt inne und holte Atem. Hoch uber ihm schrie ein Seevogel. Delaware bestrich ein Stuck Brot mit Butter, kleckerte

Marmelade drauf und schob es sich in den Mund. »Fein«, sagte sie. »Ich sehe, du magst ihn immer noch.«

Der Name Ucluelet leitete sich ab aus der Nootka-Sprache und bedeutete so viel wie ›Sicherer Hafen‹. Ebenso wie Tofino lag Ucluelet geschutzt in einer naturlichen Bucht, und ebenso war das kleine Fischerdorf mit den Jahren zu einem pittoresken Anziehungspunkt fur Whale Watcher geworden, mit hubsch gestrichenen Holzhausern, netten Kneipen und Restaurants.

Greywolfs Behausung gehorte zum weniger vorzeigbaren Teil Ucluelets. Folgte man einem wurzeluberwucherten Pfad abseits der Hauptstra?e, der breit genug fur ein Auto und das Verderben eines jeden Sto?dampfers war, fand man sich nach einigen hundert Metern auf einer Lichtung wieder, umstanden von uralten Riesenbaumen. Das Haus, eine unansehnliche Bruchbude mit einer angebauten, leer stehenden Stallung, lag mitten darauf. Es war vom Ort aus nicht zu sehen. Man musste den Weg schon kennen.

Dass die Hutte alles andere als komfortabel war, wusste niemand besser als ihr einziger Bewohner. Sofern es das Wetter zulie? — und Greywolfs Ansicht nach begann schlechtes Wetter irgendwo zwischen einem Tornado und dem Ende der Welt —, hielt er sich drau?en auf, zog durch die Walder, fuhrte Touristen zu Schwarzbaren und nahm alle Arten von Gelegenheitsarbeiten an. Die Wahrscheinlichkeit, ihn hier anzutreffen, ging gegen null, selbst in der Nacht. Entweder schlief er in der freien Natur oder in den Zimmern erlebnishungriger Touristinnen, die uberzeugt waren, den edlen Wilden abgeschleppt zu haben.

Es war fruher Nachmittag, als Anawak in Ucluelet eintraf. Er hatte den Plan gefasst, nach Nanaimo zu fahren und von dort die Fahre nach Vancouver zu nehmen. Aus verschiedenen Grunden zog er es vor, diesmal auf den Helikopter zu verzichten. Shoemaker, der sich in Ucluelet mit Davie treffen wollte, erklarte sich bereit, ihn zu fahren, womit er Anawak einen passenden Vorwand lieferte, dort Zwischenstation zu machen. Davie dachte in diesen Tagen laut uber ausgedehnte Abenteuertouren nach: Wenn du den Leuten keine zwei Stunden auf See mehr bieten kannst, biete ihnen eine ordentliche Woche auf dem Land. Anawak hatte es abgelehnt, bei dem Gesprach dabei zu sein, in dessen Verlauf Davie und Shoemaker die Neuausrichtung des Unternehmens erortern wollten. Er spurte, dass seine Zeit auf Vancouver Island zu Ende ging, wie immer sich die Dinge entwickeln mochten. Was hielt ihn schon wirklich? Was blieb, nachdem das Whale Watching eingestellt war? Eine Lahmung, die sich als Liebe zur Insel tarnte und fur die sein schmerzendes Knie zum unliebsamen Symbol geworden war.

Sinnlosigkeit.

Jahre seines Lebens hatte er damit verbracht, sich abzulenken. Gut, es hatte ihm einen Doktortitel eingebracht und Anerkennung. Dennoch hatte er diese Zeit verloren. Nur, nicht richtig zu leben war eine Sache, den Tod vor Augen zu haben eine ganz andere, und zweimal ware er in den vergangenen Wochen beinahe gestorben. Seit dem Absturz des Wasserflugzeugs war alles anders geworden. Anawak fuhlte sich im Innersten bedroht. Ein Verfolger aus langst vergessen geglaubten Zeiten hatte seine Angst gewittert und seine Spur wieder aufgenommen. Ein frostiges Gespenst, das ihm eine letzte Chance bot, sein Leben in den Griff zu bekommen, und Einsamkeit und Elend bereithielt, sollte er scheitern. Die Botschaft war allzu deutlich:

Durchbrich den Kreis. Der gute alte Psychologenspruch.

Anawaks Weg fuhrte ihn den wurzelbewachsenen Pfad hinauf, wie zufallig und ohne besondere Eile. Er war die Hauptstra?e entlanggegangen und in allerletzter Sekunde abgebogen, als sei ihm unvermittelt die Idee gekommen. Nun stand er auf der Lichtung vor dem hasslichen kleinen Haus und fragte sich, was zum Teufel er hier eigentlich machte. Er stieg die wenigen Stufen zu der schabigen Veranda empor und klopfte.

Greywolf war nicht zu Hause.

Einige Male ging er um das Haus herum. Auf unbestimmte Weise war er enttauscht. Naturlich hatte er sich denken konnen, dass er niemanden antreffen wurde. Er uberlegte, ob er einfach wieder gehen solle. Vielleicht war es gut so. Immerhin hatte er einen Versuch gestartet, wenngleich einen erfolglosen.

Aber er ging nicht. Das Bild eines Menschen mit Zahnschmerzen ging ihm plotzlich im Kopf herum, der beim Zahnarzt schellt und davonlauft, weil nicht unverzuglich geoffnet wird.

Seine Schritte fuhrten ihn zuruck zur Haustur. Er streckte die Hand aus und druckte die Klinke hinunter. Mit leisem Knarren schwang die Tur ins Innere. Es war nicht ungewohnlich in dieser Gegend, dass die Menschen ihre Hauser offen lie?en. Eine Erinnerung durchfuhr ihn kalt. Auch anderswo lebte man so. Hatte man so gelebt. Einen Moment verharrte er in Unschlussigkeit, dann trat er zogerlich ein.