Er war ewig nicht mehr hier gewesen. Umso mehr erstaunte ihn, was er sah. In seiner Erinnerung hatte Greywolf in schmuddeligem Chaos gehaust. Stattdessen erblickte Anawak einen schlichten, aber behaglich eingerichteten Raum, an dessen Wanden indianische Masken und Wandteppiche hingen. Um einen niedrigen Holztisch standen geflochtene und bemalte Sessel. Indianische Decken zierten ein Sofa. Zwei Regale waren voll gestopft mit allen moglichen Gegenstanden des taglichen Gebrauchs, aber auch mit holzernen Rasseln, wie die Nootka sie bei Zeremonien und rituellen Gesangen benutzten. Einen Fernseher sah Anawak nicht. Zwei Kochplatten wiesen den Raum zugleich als Kuche aus. Ein Durchgang fuhrte in ein zweites Zimmer, in dem Greywolf schlief, wie Anawak sich erinnerte.

Kurz war er versucht, sich dort umzusehen. Immer noch fragte er sich, was er hier eigentlich machte. Dieses Haus lockte ihn in eine Zeitschleife. Es warf ihn weiter zuruck in die Vergangenheit, als ihm lieb sein konnte.

Sein Blick blieb an einer gro?en Maske hangen. Sie schien den ganzen Raum zu uberblicken.

Die Maske sah ihn an.

Er trat naher heran. Viele indianische Masken, die Gesichter zeigten, arbeiteten die Merkmale in symbolhafter Ubertreibung heraus — riesige Augen, uberma?ig geschwungene Brauen, schnabelartige Hakennasen.

Diese hier war das getreue Abbild eines menschlichen Antlitzes. Sie zeigte das ruhige Gesicht eines jungen Mannes mit gerader Nase, vollen, geschwungenen Lippen und hoher, glatter Stirn. Die Haare wirkten verfilzt, schienen aber echt zu sein. Sah man davon ab, dass die Pupillen ausgeschnitten waren, um dem Trager das Hindurchgucken zu ermoglichen, wirkten die Augen mit den wei? bemalten Augapfeln uberraschend lebendig. Sie blickten ruhig und ernst, fast wie in Trance.

Anawak stand reglos vor der Maske. Er kannte indianische Masken zuhauf. Die Stamme fertigten sie aus Zedernholz, Rinde und Leder. Man konnte sie kaufen, sie gehorten zum festen Repertoire des touristischen Angebots. Diese hier schlug aus der Art. Eine solche Maske fand man nicht in Touristenladen.

»Sie stammt von den Pacheedaht.«

Er fuhr herum. Greywolf stand direkt hinter ihm.

»Fur einen Mochtegernindianer bist du gut im Anschleichen«, sagte Anawak.

»Danke.« Greywolf grinste. Er wirkte keineswegs verargert uber den ungebetenen Besucher. »Ich kann das Kompliment nicht zuruckgeben. Fur einen Totalindianer bist du die absolute Vollpfeife. Wahrscheinlich hatte ich dich abmurksen konnen, und es ware dir nicht aufgefallen.«

»Wie lange stehst du schon hinter mir?«

»Ich bin gerade reingekommen. Ich spiele keine Spielchen, das musstest du eigentlich wissen.« Greywolf trat einen Schritt zuruck und musterte Leon, als falle ihm erst jetzt auf, dass er ihn nicht eingeladen hatte. »Bei der Gelegenheit, was willst du eigentlich?«

Gute Frage, dachte Anawak. Unwillkurlich wandte er den Kopf wieder der Maske zu, als konne sie das Gesprach fur ihn ubernehmen.

»Von den Pacheedaht, sagst du?«

»Du kennst dich mal wieder nicht aus, wie?« Greywolf seufzte und schuttelte nachsichtig den Kopf. Schimmernde Wellen durchliefen sein langes Haar. »Die Pacheedaht …«

»Ich wei?, wer die Pacheedaht sind«, sagte Anawak argerlich. Das Territorium des kleinen Nootka-Stammes lag im Suden Vancouver Islands, oberhalb von Victoria. »Mich interessiert die Maske. Sie sieht alt aus. Nicht wie der Krempel, den sie den Touristen verkaufen.«

»Es ist eine Replik.« Greywolf trat neben ihn. Statt des speckigen Lederanzugs trug er Jeans und ein verwaschenes Hemd, dessen Karomuster nur noch zu erahnen war. Seine Finger strichen uber die Konturen des Zederngesichts. »Es ist die Maske eines Vorfahren. Das Original verwahrt die Queesto-Familie in ihrem HuupuKanum. Soll ich dir erklaren, was ein HuupuKanum ist?«

»Nein.« Anawak kannte das Wort, aber tatsachlich wusste er nicht genau, was es bedeutete. Irgendetwas Rituelles. »Ein Geschenk?«

»Ich habe sie selber gemacht«, sagte Greywolf. Er wandte sich ab und ging hinuber zu der Sitzgruppe.

»Willst du was trinken?«

Anawak starrte auf die Maske. »Du hast …«

»Ich hab eine Menge Zeug geschnitzt in letzter Zeit. Neue Leidenschaft. Die Queestos hatten nichts dagegen, dass ich die Maske kopiere. — Willst du nun was trinken oder nicht?«

Anawak wandte sich um.

»Nein.«

»Mhm. Also was fuhrt dich her?«

»Ich wollte mich bedanken.«

Greywolf hob die Brauen. Er lie? sich auf der Kante des Sofas nieder und verharrte dort wie ein sprungbereites Tier. »Wofur?«

»Ich verdanke dir mein Leben.«

»Oh! Das. Ich dachte schon, es war dir nicht aufgefallen.« Greywolf zuckte die Achseln. »Gern geschehen. Sonst noch was?«

Anawak stand hilflos im Raum. Davor hatte er sich nun wochenlang gedruckt, und jetzt war es vorbei. Danke, bitte. Im Grunde konnte er wieder gehen. Er hatte getan, was notig war.

»Was hast du denn zu trinken?«, fragte er stattdessen.

»Kaltes Bier und Cola. Der Eisschrank hat letzte Woche den Geist aufgegeben. War ‘ne harte Zeit, aber jetzt funktioniert er wieder.«

»Gut. Cola.«

Plotzlich fiel Anawak auf, dass der Riese unsicher wirkte. Greywolf musterte ihn, als wisse er irgendwie nicht weiter. Er zeigte auf den kleinen Kuhlschrank neben dem provisorischen Herd.

»Bedien dich selber. Fur mich ein Bier.«

Anawak nickte. Er offnete den Kuhlschrank und forderte zwei Dosen zutage. Etwas steif setzte er sich Greywolf gegenuber in einen der Korbsessel, und sie tranken.

Eine Weile sagte niemand etwas.

»Und sonst, Leon?«

»Ich …« Anawak drehte die Dose hin und her. Dann stellte er sie ab. »Hor zu, Jack, ich meine es ernst. Ich hatte langst herkommen sollen. Du hast mich aus dem Wasser gefischt, und … na ja, ich meine, du wei?t, was ich von deinen Aktionen und deinem Indianergehabe halte. Ich kann nicht leugnen, dass ich eine Sauwut auf dich hatte. Aber das sind zwei Paar Schuhe. Ohne dich wurden einige Leute nicht mehr leben. Das ist viel wichtiger, und … ich bin gekommen, um dir das zu sagen. Sie nennen dich den Held von Tofino, und ich schatze, in gewisser Weise bist du das auch.«

»Du meinst es tatsachlich ernst?«

»Ja.«

Wieder verstrich langeres Schweigen.

»Was du Indianergehabe nennst, Leon, ist etwas, woran ich glaube. Soll ich’s dir erklaren?«

Unter anderen Umstanden ware die Unterhaltung damit beendet gewesen. Anawak hatte sich entnervt verzogen, Greywolf hatte ihm irgendetwas Krankendes hinterhergebrullt. Nein, das war nicht ganz fair. Anawak hatte sich verzogen und dabei als Erstes etwas Krankendes gesagt.

»Schon.« Er seufzte. »Erklar’s mir.«

Greywolf sah ihn lange an. »Ich habe ein Volk, zu dem ich gehore. Ich habe mir eines erwahlt.«

»Oh, toll. Du hast dir eines erwahlt.«

»Ja.«

»Und? Haben sie dich auch erwahlt?«

»Ich wei? es nicht.«

»Du laufst rum wie die Jahrmarkt-Version deines Volkes, wenn ich das sagen darf. Wie eine Figur aus einem schlechten Western. Was sagt denn dein Volk dazu? Finden sie, du tust ihnen einen Gefallen?«

»Es ist nicht meine Aufgabe, jemandem einen Gefallen zu tun.«

»Doch. Wenn du zu einem Volk gehoren willst, ubernimmst du fur dieses Volk Verantwortung. So ist das nun mal.«

»Sie akzeptieren mich. Mehr will ich gar nicht.«

»Sie lachen uber dich, Jack!« Anawak beugte sich vor. »Begreifst du das nicht? Du hast einen Haufen Versager um dich versammelt. Darunter mogen ein paar Indianer sein, aber es sind solche, mit denen nicht mal die eigenen Leute was zu tun haben wollen. Das versteht kein Mensch. Ich versteh’s auch nicht. Du bist kein Indianer, du bist es gerade mal zu 25 Prozent, und der Rest ist wei? und zu allem Uberfluss irisch. Warum fuhlst du dich nicht den Iren zugehorig? Wenigstens der Name wurde stimmen.«

»Weil ich nun mal nicht will«, sagte Greywolf ruhig. »Kein Indianer lauft noch mit so einem Namen rum, wie du ihn dir zugelegt hast.«